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“Mein Kretertum ist weltoffen“

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Der renommierte Historiker und Humanist Pavlos Tzermias spricht von seinen kretischen Wurzeln

Damit ich voreiligen antikretischen Voruteilen vorbeuge, wie jenem berühmt-berüchtigten Spruch „Die Kreter sind immer Lügner“, beeile ich mich zu betonen, dass der besagte Spruch der Inbegriff des Zirkelschlusses ist. In seinem Brief an Titus behauptete Apostel Paulus, alle Kreter lögen. Er berief sich dabei auf eine so lautende Aussage des Epimenides, eines griechischen Sehers und Sühnepriesters, der, falls die betreffende Überlieferung zutrifft, Ende des 7. Jahrhunderts v.Chr. u.a. in Athen auftrat. Epimenides war indes selber Kreter. So muss seine Behauptung über die Verlogenheit der Kreter ebenfalls eine Lüge gewesen sein. Folglich sind nicht alle Kreter Lügner. Es handelt sich bekanntlich um jene logische Paradoxie, die im Fachjargon cirulus vitiosus heisst. Aber lassen wir die strenge formale Logik beiseite. Überall gibt es Lügner. Und selbstverständlich sind nicht alle Kreter Lügner.

Doch nun zum Thema. Meine Eltern wurden auf der Hochebene von Lasithi geboren. Die Lasithi-Ebene liegt im Osten Kretas auf rund 850 m Höhe. Es ist ein in die Berge eingebettetes, fruchtbares Hochplateau mit Schwemmland. Im Griechischen schreibt man den Namen der Gegend mit einem s. Im Deutschen wird das Wort oft aus Aussprachegründen Lassithi geschrieben. Früher schrieben viele Griechen Lasithi mit einem Eta in der zweiten Silbe. Heute gilt als richtig die Schreibweise mit einem Jota. Über die Etymologie gibt es keinen Konsens. Laut Stefanos Xanthoudidis hat der Name mit dem Adjektiv lasios (dicht, behaart, bepflanzt, mutig, kräftig, rauh) zu tun. Bei seiner Deutung dachte Xanthoudidis an die Tatsache, dass die Gegend von Lasithi dicht bewaldet ist. Hinsichtlich der geographischen Terminologie muss man wissen, dass das Wort Lasithi (in der Reinsprache: Lasithion) für die Bezeichnung des Regierungsbezirks (Nomos), der Provinz (Eparchia) und der Hochebene (Oropedio[n]) verwendet wird. Hier interessiert das Oropedio.

Die Lasithi-Hochebene gilt als eine der landschaftlich schönsten Regionen Kretas. Georgios I. Panajotakis beruft sich in seinem Lasithi-Buch mit Stolz auf dithyrambische Äusserungen von Besuchern des Oropedio. Und der Schriftsteller Manolis Jalourakis schreibt in seinem 1960 erschienenen Kreta-Buch, Lasithi sei eine landschaftlichte Vision, die er während langer Zeit in sich getragen habe. Man muss allerdings eingestehen, dass Lasithi im Laufe der Zeit etwas von seiner Ursprünglichkeit verloren hat. Im Zuge der Technisierung wurden die Windräder der Mühlen durch Motoren ersetzt, und, wo es noch Windmühlen gibt, sind diese oft nur noch Dekoration.

Auch historisch ist die Hochebene von grossem Interesse. Die ruhmreiche Vergangenheit ist freilich in ihren Anfängen mit dem Mythos verwoben. „So galt die Diktäische Grotte (Psychro-Höhle) als Geburtsort des Zeus, auf Linear B-Täfelchen in Knossos ‚dikataja diwe’ genannt...“ (Brinna Otto). Nach einer anderen Version gab Hera allerdings Zeus den Kureten, die in der Nachbarschaft des Ida-Berges lebten, in Pflege. „Bekanntlich wurde auf Kreta von mehreren Höhlen gesagt, sie hätten in der Geburts- und Kindheitsgeschichte des Zeus eine Rolle gespielt; ausser von der Höhle im Berg Aigaion, dem ‚Ziegenberg’, noch von der Diktäischen und Idäischen“ (Karl Kerényi). Für die Lasithioten steht freilich fest: Zeus kam in der Diktäischen Grotte zur Welt. Psychro[n] ist eines der Dörfer der Lasithi-Hochebene. Es liegt gegenüber Tzermiado, dem Hauptort von Lasithi. Früher war Psychro eine Ortschaft mit betont bäuerlichem Charakter. Heute ist es ein touristischer Schwerpunkt. Die zahlreichen ausländischen Besucher wollen sehen, wo Zeus das Licht der Welt erblickt haben soll.

Das Oropedio von Lasithi war aus geographischen Gründen gleichsam eine natürliche Hochburg. In der Antike soll nach der Eroberung der Insel durch die Dorier (Dorer) ein Teil der minoischen Bevölkerung hier Zuflucht gesucht haben. Diese Enklave der Unabhängigkeit erschien den Venezianern sehr gefährlich. Der in Tzermiado im Jahr 1900 geborene Historiker Stergios G. Spanakis veröffentlichte 1957 eine Studie, in der er hervorhob, dass die Venezianer die Hochebene als „spina nel cuore di Venezia“ („Stachel im Herzen Venedigs“) bezeichneten. Die venezianischen Herrscher ergriffen deshalb verschiedene Massnahmen zur Umsiedlung der Bevölkerung und zum Verbot der Agrikultur. Das Hochplateau von Lasithi war, wie ich in meinem Buch „Land der Griechen“ schreibe, eine Art ostkretisches Sfakia. Die Sfakioten (die Bewohner von Sfakia in Westkreta) sind der Inbegriff eines zähen und unerschrockenen Berglervolkes. Auf Kreta erzählt man mit Stolz, dass sie heute noch bei Zeus schwören. Die Lasithioten schwören zwar nicht bei Zeus. Sie nehmen indes seine Geburtsstätte für sich in Anspruch. Sfakioten und Lasithioten waren Protagonisten bei den kretischen Aufständen gegen die Türken. In Lasithi tat sich dabei zum Beispiel Emmanouil (Manolis) Kazanis (Übername: Rovythis) hervor.

Der Name des Lasithi-Hauptortes Tzermiado geht auf das Geschlecht der Tzermias zurück. Die Mehrzahl des Familiennamens Tzermias ist im Griechischen Tzermiades, der Genitiv Plural davon Tzermiadon (mit Omega geschrieben). Die Bezeichnung der Ortschaft weist also darauf hin, dass es sich dabei um den Wohnort der Tzermiades handelt. In seinen Memoiren berichtet Nikolaos Tzermias (1887-1975), dass laut dem Linguisten Georgios Chatzidakis sowie dem Philologen und Politiker Antonios Voreadis (1859-1913) der Name Tzermias auf Jeremias zurückgehe. Im Schrifttum begegnet man der These, dass die Tzermiades byzantinischer Herkunft seien. Mein Vater (Nikolaos Tzermias) verliess Tzermiado[n] schon früh. Er folgte dem Appell von Eleftherios Venizelos und ging 1916 nach Thessaloniki, wo er an der venizelistischen „Bewegung der nationalen Verteidigung“ („Ethniki Amyna“) teilnahm. Diese Bewegung führte das von den Venizelisten kontrollierte Gebiet an der Seite der Alliierten in den Krieg „und leitete tiefgreifende Reformen ein“ (Gunnar Hering). Nikolaos Tzermias war von Eleftherios Venizelos zutiefst beeindruckt. In seinen Memoiren berichtet er über seine erste Begegnung mit ihm auf Kreta mit grosser Begeisterung. Doch in der sozialen Frage ging Nikolaos Tzermias als Politiker (Abgeordneter und Regierungsmitglied) im Laufe der Zeit, wie der Historiker Gunnar Hering zutreffend betont, zu Venizelos auf Distanz. Er war gesellschaftspolitisch engagierter als der kretische Staatsmann.

Weil sich meine Eltern zuerst in Thessaloniki und dann in Athen niederliessen, verbrachte ich nie längere Zeit auf der Lasithi-Hochebene. Ich habe aber als Kind manche Sommerferien dort erlebt. Und ich denke mit einer gewissen Wehmut daran zurück. Es war die Zeit, in der das Oropedio noch nicht mit Auto zu erreichen war. Wir ritten jeweils mit Mauleseln hinauf, die uns mein Grossvater mütterlicherseits (Pavlos Platakis) zum Dorf Gonies schickte. Die Bevölkerung des Hochplateaus setzte sich vorwiegend aus Bauern und Viehzüchtern zusammen. Die (wenigen) Touristen hiessen damals Periigites, und dem Wort haftete etwas Exotisches an. Man sprach es aus und dachte etwa an einen Engländer der Kolonialzeit mit Tropenhelm und Feldstecher. Die Lasithioten droschen wie zu Zeiten Homers. Und wir (die Kinder aus der Stadt) halfen auf dem Dreschplatz furchtbar gerne mit. Die Arbeit auf dem Aloni (Dreschplatz) genossen wir sehr. Wir liessen uns mit Vergnügen von der geduldigen Kuh auf dem Dreschschlitten (Volosyros) im Kreis herumziehen. Für uns war das Dreschen ein Spiel. Als ich 1963 mit Schweizer Schülern und Schülerinnen das Oropedio besuchte, schrieb eine Reiseteilnehmerin in einem Artikel: „Allen Teilnehmern wurde die Reise zu einem grossen Erlebnis, geblieben ist eine stille Sehnsucht...“

Dem bekannten Schweizer Schriftsteller Rudolf Jakob Humm (1895-1977) verdanken wir unter anderem den köstlichen Roman „Der Kreter“ (1973). Der Roman spielt nicht auf Kreta, sondern in Zürich. Der Hauptheld des Romans (Markos Kalidrinakis) hat zwar die Heimat seiner Väter nie gesehen, fühlt sich jedoch durch und durch als Kreter. Er hat ein ideales Bild von Kreta, der Geburtsstätte des Zeus, und streitet mit seinem kretischen Freund Nikos Michalakis darüber, ob der Göttervater im Diktaion Antron (Diktäische Grotte) (so Kalidrinakis) oder aber im Idaion Antron (Idäische Grotte) (so Michalakis) geboren worden sei. Kalidrinakis’ Vater kam in Psychro[n], Nikos Michalakis in Anog[e]ia an der Flanke des Berges Ida (Psiloritis) auf die Welt.

Humm erklärt den Hintergrund des Streits: „Die Leute der Umgebung beider Höhlen sind nämlich überzeugt, dass in der ihrigen der Gott Zeus geboren wurde, und weil die Sage nichts Eindeutiges darüber hinterlassen hat und auch die Gelehrten nichts Genaueres darüber wissen, liegen sich die Leute um den Berg Ida und jene um den Berg Dikte wegen dieser Höhlen seit dreitausend Jahren in den Haaren, sobald sie sich begegnen und darauf zu sprechen kommen.“ Gerade dies sei Kalidrinakis und Michalakis widerfahren. „Das Merkwürdigste an diesem hitzigen Wortwechsel ist, dass er sich in Zürich abspielte, wo kein Mensch von Zeus etwas weiss. Auch Kreta ist den meisten Zürchern Hekuba.“

Der Sohn des Markos Kalidrinakis (er heisst eigentlich Idomeneus, aber alle nennen ihn Köbi) kann mit dem „Kretertum“ seines Vaters nicht viel anfangen. Er nennt die väterliche Schwärmerei für Kreta „Kretinismus“. Köbi-Idomeneus ist in Zürich verwurzelt. Er flirtet mit der radikalen Jugendbewegung, dann wird er rockerfreudig. Doch eines Tages entschliesst er sich, der Aufforderung Michalakis’ zu folgen und nach Kreta zu gehen, um dort gegen die damals in Griechenland regierenden Diktatoren zu kämpfen. „Auf Kreta findest du ein neues Leben, eines mit Sinn und Zweck. Kein Gejammer einer verzärtelten Jugend, keine Fahrradketten. Tapfere Soldatenarbeit, Partisanenarbeit.“ „Du bist ein ehrlicher Kämpfer gegen eine unehrliche Regierung. Also überlege dir das, mein Junge.“ „In Köbi arbeitete es gewaltig. Der ‚Kreterei’ sollte er sich ergeben?“ Er ergab sich. „Wie kommt man nach Kreta?“, fragte er. Der Roman schliesst mit dem Entschluss des Idomeneus (eigentlich nicht des Köbi), in die engere Heimat seines Grossvaters zu gehen. „Ob man ihn je in der Schweiz wieder sehen wird, weiss der Verfasser (P.T.: Humm) nicht.“

Ich habe Humms Roman sehr gerne. Nicht nur wegen seiner literarischen Qualität (der erzählerischen Könnerschaft, der Ironie, der Satire, der Lust am Fabulieren, der eigenwilligen Sprache), sondern auch aus subjektiven Gründen. Für die Gestalt des Markos Kalidrinakis wurde Humm von einem Kreter inspiriert, dessen Tabakladen im Zentrum Zürichs mir auffiel, als ich 1949 erstmals in die wirtschaftliche Metropole der Schweiz reiste. Ich wechselte damals mit dem Inhaber des Ladens ein paar Worte. Er kam mir zu „schweizerisch“ vor. Den Roman Humms las ich zum ersten Mal während der Zeit der griechischen Militärdiktatur (1967-1974). Als Gegner dieses Regimes empfand ich für die Verurteilung der Militärregierung durch Humm natürlich grosse Sympathie. Vor allem aber: Ich fühle mich mit Zürich sehr verbunden - dieses Zürich, das Humm mit kritischer Liebe schildert. Um es in seiner Sprache zu sagen: Ich bin ein „eingezürcherter“ Grieche kretischer Abstammung.

Das „Kretertum“ des Markos Kalidrinakis ist allerdings nicht mein Kretertum. Kalidrinakis lebt in einer mythischen Welt, die mit der kretischen und überhaupt mit der griechischen Realität nichts zu tun hat. Er gibt seinem Sohn den Namen Idomeneus (Enkel des Minos) und geht an der realen Geschichte der Heimatinsel seines Vaters völlig vorbei. Dem Zürcher Leben (vor allem dem Geschäftsleben) hat er sich „harmonisch“ angepasst. Aber auch ihm ist Kreta (und das ganze Griechenland) „Hekuba“, d.h. Terra incognita. Kein Wunder, dass er die unsinnige Schwärmerei seines Freundes Michalakis für das „heidnische Kreta“ und die Hasstiraden desselben gegen Apostel Paulus, „diesen Levantiner aus Damaskus“, der die Kreter Lügner nannte, mit Genuss hörte.

Kreta lässt sich nicht auf das Heidentum des Altertums reduzieren. Zur kretischen Kulturgeschichte gehören auch die nachantiken Perioden. Zugespitzt formuliert: Minos, El Greco, Kornaros, Kazantzakis bilden ein Ganzes. Dieses widerspruchsvolle, polyvalente, mosaikartige, weltoffene und somit ökumenische Ganze ein ist mein Kretertum.